VOM LÄRM DER STRASSE UND DER SCHÖNHEIT DES BETONS
MARTIN ENGLER
In Umberto Boccionis La strada entra nella casa (1911) wird die Straße zum malerischen Tornado. Mit der brachialen Energie der frühen Moderne wird alles, was sich ich ihr in den Weg stellt, durcheinandergewirbelt und in seine Einzelteile zerlegt. Eine Frau betrachtet von ihrem Balkon aus von oben das zerstörerische Geschehen, das eines der zentralen Bilder des italienischen Futurismus her vorbringt. Scheinbar unbeteiligt verfolgt sie das Tohuwabohu auf der Straße, die eigentlich eine Baustelle ist. Es ist auch nicht wirklich die Straße, die in ihr Haus eindringt, sondern der Lärm der modernen Industriegesellschaft, der Fabriken, Straßenbahnen und Autos. Das Bedrohliche ist das Öffentliche im Gegensatz zur Privatheit ihrer Wohnung, aus der sie gerade heraustritt. Sie und wir mit ihr sind auch keine unbeteiligten Beobachter, wenn wir über ihre Schulter auf die vor ihr sich ausbreitende Szenerie blicken. Wie die Dame auf dem Balkon allmählich von dem sie umgebenden Chaos um- und verschlungen wird, begegnet der Betrachter in Boccionis sogartiger Malerei einem zentralen Moment der Moderne, der die Kunst bis heute prägt: Die ästhetische Grenze zwischen innen und außen, die Membran, die uns vom Außen und der Welt trennt, beginnt sich aufzulösen.
Zugegebenermaßen ist Boccionis Ikone der frühen Moderne nicht die allererste Assoziation, die sich einstellt, wenn wir zu verstehen versuchen, was Manuel Franke dazu bewegt, viele Meter Wellblech und Tonnen von Beton im Garten des Städel Museums zu platzieren. Und natürlich hat die Kunst des 1964 Geborenen wenig gemein mit der gewalt- und kriegslüsternen Rhetorik der Futuristen, die unter anderem die Schlachten des Ersten Weltkriegs verherrlichten. Aber auch Frankes Werk gibt sich gerne muskulös und strotzt vor roher Materialität. Ihr Schöpfer ist dabei zweifelsohne eher Ästhet, der seine bildnerischen Muskeln spielen lässt, als kriegerischer Hooligan. Unverhohlen wird gleichwohl mit der Ästhetik von Fabriken und Baustellen kokettiert. Seine in der Regel im XXL-Format daherkommenden Objekte entstehen eher selten im Atelier, sondern in einschlägigen Produktionsstätten wie Walzwerken oder Lackierereien. Zuweilen werden sie auch von dort als Rohmaterial auf Tiefladern angeliefert. Und immer wieder begegnen wir auch brachialen Urgewalten und rohen Kräften. Wenn etwa in Colormaster X (2016 bei Taubert Contemporary, Berlin) oder in space race (2012 im Neuen Kunstverein Wuppertal) einfaches, fabrikneues Wellblech wie eine große sich brechende Welle scheinbar haltlos und doch stabil in den Raum trudelt.
Im Städel Garten scheint die Kraft des Materials zumindest vordergründig formal gefasst und gebändigt. Für seine Arbeit Colormaster F, die im Sommer 2018 im Rahmen der Reihe „Im Städel Garten“ entstand, verwendete Franke fabrikneues Well blech und eingefärbten Weißzement. Der Industriecharakter des Weißzements wird durch die blaue Pigmen tierung gebrochen. Das Wellblech, das sonst vorrangig in der Landwirtschaft oder für Industriebauten genutzt wird, erstrahlt in Colormaster F auf der einen Seite in hellem Rosa und auf der anderen in leuchtendem Orange. Der Name Colormaster geht nicht zufällig auf ein Farbtemperaturmessgerät zurück, wie es in der professionellen Fototechnik zum Messen und Korrigieren der Farbtemperatur eingesetzt wird. Mit der Wahl des Titels verweist der Künstler auf die besondere Bedeutung, die Farbe in seinem Werk einnimmt, indem sich die Identität der Skulptur je nach Betrachterstandpunkt wesentlich verändert. Colormaster F ist dementsprechend nicht auf eine einzige Betrachterperspektive festgelegt, sondern lädt vielmehr dazu ein, mit der Skulptur und ihren unterschiedlichen Sehangeboten zu interagieren und die verschiedenen Sehweisen zu erkunden, die durch sie ermöglicht beziehungsweise vorenthalten werden.
Und natürlich geht es auch 2018 immer noch oder wieder um die Malerei nach dem Ende der Malerei oder deren Fortsetzung mit anderen, kunstfremden, alltäglichen, industriellen, angeblich unmalerischen, dabei gleichwohl höchst sinnlichen Mitteln. Tod und Wiedergeburt der Malerei sind heute nicht mehr sich diametral zueinander verhaltende Gegensätze, sondern sind Ausdruck eines beständig sich erneuernden Prozesses, in dem die Malerei zur gefräßigen Krake wird, die sich immer weiter in den Bereich des Außerkünstlerischen ausbreitet. Die jahrhundertealte Tradition, in der die Malerei ein Fenster zur Welt, das Abbild der Realität sein sollte, gelangte im Laufe des 20. Jahrhunderts unwiederbringlich an ihr Ende.
Kunst und Malerei bilden nicht mehr der Realität ab, sondern die Bewegung kehrt sich um. Oder ergibt erst aus diesem Blickwinkel gesehen richtig Sinn: Nicht der Alltag ergreift Besitz von der Kunst, sondern die Kunst breitet sich immer weiter aus und macht den Alltag zur Kunst. In der Renaissance wurde die Malerei zum Fenster zur Welt und die Zentralperspektive unser Modus Operandi, um Welt und Kunst immer enger miteinander zu verknüpfen. In der Moderne wurde das Fenster dann irgendwann blind, der Raum verschwand aus der Malerei, und im Umkehrschluss machte sich die Malerei im Raum breit. Die ästhetische Grenze war plötzlich in beide Richtungen durchlässig, wenn nicht in Auflösung begriffen, wie auch die Gattungsgrenzen sich immer mehr verflüssigten. So dringt nicht nur, wie bei Boccioni, die Straße in das Haus, sondern auch der Krach des Alltags in die bruitistische Musik der Futuristen ein und finden sich Stahlkugeln und Eau de Cologne als Zutaten in ihrer Küche.
Manuel Franke ist gleichermaßen spielerischer Nachfahre wie ästhetisch produktiver Nutznießer dieser im frühen 20. Jahrhundert rasant sich vollziehenden Entwicklung. Vor allem aber denkt er das Verflüssigen und das Öffnen der Gattungsgrenzen konsequent in unsere Gegenwart weiter. So bleibt das gewellte Blech seiner Materialität treu, obwohl es mit industriell genormten Farben lackiert wurde und trotz der perfekten, an das Finish einer Autokarosserie erinnernden Oberfläche. Und auch der durchgefärbte Beton ist nicht weniger brachial in seiner kubischen Massivität, wenn seine hellblaue Farbigkeit an die blassen Himmel impres sionistischer Bilder denken lässt. Colormaster F ist aufgrund der unkünstlerischen Direktheit eine wuchtige, kompromisslose Setzung, die im doppel ten Sinne sperrig bleibt, und zugleich raumgreifende, elegant von der Schwerkraft sich lösende Malerei. Colormaster F kokettiert mit dem urbanen Raum und ist doch ganz autonome Skulptur, lädt ein zur Benutzung und ist doch kein Möbel oder Gebrauchsgegenstand. Die rechteckige Rasenfläche und die Kuppel der Gartenhalle sind temporär von vier Seiten umschlossen und schüren im selben Moment die Neugierde auf diesen neu entstandenen Raum. Die 50 Meter lange und 2,50 Meter hohe Installation Colormaster F nimmt es mit dem auf drei Seiten von Gebäuden begrenzten Garten in seiner Ganzheit auf und setzt ihm seine starkfarbig aus kragende Skulptur selbstbewusst entgegen. Der Blick von der Straße in den Städel Garten und auf den grünen Rasenhügel wird dabei bewusst blockiert. Das über dem Betonsockel steil nach oben weisende Blech stellt sich dem Besucher des Gartens als massives, unüberwindliches Hindernis in den Weg. Zugleich aber wird derselbe Garten in ganz neuer Weise erfahrbar. Colormaster F verändert nicht nur den Garten in seiner räumlichen Konstellation, sondern schafft auch einen weiteren, zusätzlichen Raum innerhalb des Gartens, der sich gleichermaßen verschließt und öffnet. Tatsächlich kann Colormaster F nie in seiner Gänze erfasst werden, sondern bietet immer zwei unvereinbare Ansichten, je nachdem ob man sich auf dem Museumshügel ausruht oder sich Museum und Kunstwerk von der Stadt aus nähert. Colormaster F wird so einerseits integraler Teil des vielschichtigen, über 100 Jahre alten und verschiedenste Baustile umfassenden Architekturensembles Städel Garten, inszeniert sich aber zugleich als autonomes und eigenwilliges Gegenüber. Der perfekt durchgestaltete Städel Garten, insbesondere die weite Grünfläche, die die Decke der unterirdischen Gartenhallen für die Gegenwartkunst des Städels bildet, wird Teil und Widerpart der Skulptur, die sich als massiver Riegel mit rosafarbener Unterseite wie ein riesiges Segel über dem Rasen erhebt. Die Skulptur aus Stahl, Beton und Farbe friedet den schönen Garten einerseits ein und verlängert andererseits – wortwörtlich – das Museum in einer riesigen, knallorange Welle in den Stadtraum hinaus. Die an sich schon monumentale Setzung erschließt sich somit einen noch viel weiter reichenden Resonanzraum – die 3000 Quadratmeter große Grünfläche ebenso wie den sie umgebenden urbanen Raum –, da die kraftvolle orange Welle tatsächlich aus mehr als 100 Metern Entfernung sichtbar ist. Die Straße muss gar nicht mehr in das Haus – oder den Garten – dringen, es ist das Kunstwerk selbst, das Grünfläche, Museum, Himmel und Straße als seinen ureigensten Hallraum beansprucht.